Wer kennt sie nicht, die Glücklichen, denen im Leben scheinbar alles gelingt: gut geratene Kinder, einen anständig bezahlten Job, robuste Gesundheit, getreu dem Werbespot: mein Haus, mein Auto, meine Frau. Fazit: Mir kann nichts passieren, mir geht’s einfach gut.
Der Glückliche suhlt sich im Wohlbefinden und findet sich und seine Umwelt im Idealfall einfach wunderbar. Raum und Zeit sind im Takt. Trauer, Wut und Unzulänglichkeit sind nicht programmiert.
Und da sind noch die Anderen, die Unglücklichen, die sich selbst nieder reden: „Ich bin hässlich“, „ich kann nichts“, „ich bin zu dick“, „ich bekomme einfach keinen Job, der zu mir passt“, „kein Mann kommt mit mir aus“.
Ständig unzufrieden, immer auf der Suche. Ja eigentlich nach was?
Wie „stürzt“ man in eine Depression? Die heile Welt gerät ins Schleudern – man fällt aus der Zeit in einen Raum, den man freiwillig nie betreten hätte. Eigen- und Weltzeit, also die Zeit, die man im allgemeinen Erleben mit anderen verbringt, sind gestört.
Eine reaktive Depression folgt Ereignissen, die für die betreffende Person so einschneidend und belastend sind, dass der innere Taktgeber aus dem Lot gerät.
Krankheit erlebt man als Nicht-mehr-Können. Schuld, die man nicht mehr abtragen kann, weil derjenige nicht mehr lebt. Die vergebliche Stellensuche erlebt man als Unzulänglichkeit, man hadert mit sich selbst, findet keinen Ausweg aus der Situation, man grübelt, man forscht in seinem Innersten, ob nicht irgendwann, zu einer anderen Zeit irgendein entscheidender Fehler begangen wurde, der sich jetzt rächt.
Das Individuum erkennt sich nicht mehr als Teil einer sozialen Zeit, in der Gemeinschaft mit anderen, sondern vereinzelt sich in seinem Hang, an der Vergangenheit festzuhalten. Diese Verzögerung in der Eigenzeit kann zur Depression führen.
Beschleunigung dagegen erzeugt Zeitdruck – auch hier ist der depressive Mensch im Hintertreffen – er bleibt hinter seinem Anspruch zurück – er kann seine übermäßigen Ansprüche – z.B. Akten in der Reihenfolge von A bis Z unter Zeitdruck zu sortieren – nicht ordentlich erfüllen. Er bleibt etwas schuldig. Dieses Schuldgefühl lässt ihn nicht los, er fühlt sich wie ein „Hamster im Rad“. Er dreht und dreht sich und findet den Absprung nicht.
Nun wird nicht jeder depressiv, den ein unvorhergesehenes Ereignis trifft oder der ständig unter Zeitdruck steht. Es bedarf schon einer gewissen Persönlichkeitsstruktur. Zur Depression veranlagte Menschen sind überaus pflichtbewusst, ordentlich und normorientiert. Unordnung, Unruhe und das Fehlen von Werten sind ihnen nicht genehm sind. Sie sind bei unerwarteten Ereignissen schwerer davon betroffen, sich mit der Situation zu arrangieren als Menschen, die genügend Widerstandskraft und Rückhalt in ihrem sozialen Umfeld haben.
Depressiv bezeichnet man auch oft Melancholiker. Sie scheinen in Raum und Zeit zu schweben. In Harmonie mit entsprechender Rückkopplung mit den Menschen in ihrer Umgebung zu leben, ist ihnen äußerst wichtig. Deshalb erscheinen sie so losgelöst von realen Konflikten – denn sie sind meinst unfähig, Konflikte zielsicher zu lösen.
Vom Propheten der zum Berg geht, weil der Berg nicht zu ihm kommt, davon sind Melancholiker und Depressive weit entfernt. Sie „schaffen“ den Berg nicht, haben oft ein anderes Zeitgefühl und lassen sich nicht gern unter „Druck“ setzen.
Der manisch Getriebene dagegen versteht Zeit als permanenten Druck, er fühlt sich gehetzt, Zeit verrinnt – sinnlos, immer schneller, wozu?
Depressive erscheinen oft als langsame Denker. Dass langsam denkende Menschen nicht unbedingt depressiv sein müssen, ist hinlänglich bekannt, dafür mag es andere Ursachen geben, aber entscheidend ist das verschobene Raum- und Zeitgefühl. Depressive denken langsamer, ihre Zeitintervalle sind anders als die von schneller denkenden Menschen. Depressive, und vielleicht werden sie auch deshalb depressiv, haben ständig das Gefühl, hinterherzuhinken.
Sie leben zunehmend in der Vergangenheit, sie trauern jemanden und etwas hinterher. Zeit verwandelt sich in Schuld, immerfort und als Denkspirale ohne Ende. Und genau diese Denkspirale gewinnt Übermacht über sein Wesen, sein Handeln und Tun, es übermächtig und lähmt ihn an der Gegenwart teilzunehmen.
Das Gegenstück zur Depression ist die Manie. Sie gestattet es, leichtfüßig, leichtsinnig und überaus beschwingt das Leben zu sehen. Der manische Mensch hat Siebenmeilenstiefel an, er rennt durch Zeit und Raum. Er ist getrieben, alles gleich und jetzt zu tun, nicht später, sondern gleich, am besten alles, was ihm einfällt.
Im Gegenteil zu Depressiven sind Manische überdreht, aufgedreht in Sprache und Duktus, sie springen in ihren Gedanken hin und her, man kann ihnen oft nicht folgen und ist fasziniert von ihrem Ideenreichtum und dem angeblich Geschafftem in kürzester Zeit. Durch die Euphorie und das übersteigerte Selbstbewusstsein geraten sie oft in Lebenssituationen, die ihnen ernstlich Schwierigkeiten bringen: Exzessives Geldausgeben, Konsumrausch, wechselnde Arbeitgeber in kurzer Zeit. Die Folgen ihres Handelns können sie nicht abschätzen, es bleibt alles wunderbar an der Oberfläche, keine Verpflichtungen, keine Tiefgründigkeiten. Der Maniker kommt nur noch flüchtig mit seiner Umwelt in Kontakt.
Maniker leben über ihre Verhältnisse: Sie ignorieren körperliche und seelische Signale, erschöpfen sich buchstäblich und fallen letztendlich in das Gegenteil: die Depression.
Kann es sein, dass ein Zusammenhang zwischen der Zunahme von depressiven Erkrankungen und der zunehmenden Beschleunigung der Industriegesellschaft besteht? Sind Depressive Opfer des kollektiven Geschwindigkeitsrausches?
Gefragt sind heute unbedingte Bereitschaft zur Flexibilisierung, schnelles Reagieren und Anpassen an veränderte Situationen, jederzeit handlungsfähig sein, immer bereit, gerade das zu akzeptieren, was einem als Nonplusultra verkauft wird.
Das entspricht den Zügen des Manischen, des an der Oberfläche Bleibenden, des nicht zu tief Schürfenden.
Ergebnisse sehen wir in konditionierten Arbeitsverhältnissen: Zeitverträge, Umgehung von Kündigungsfristen, Teilzeit, geminderter Urlaub. Die gute alte Vollarbeitsstelle, mit 40 Wochenstunden, 30 Tagen Urlaub und ausreichend Gehalt ist heute eher selten und in einzelnen Branchen sehr rar.
Depression ist gleichzusetzen mit der Kapitulation vor den Erwartungen der Gesellschaft oder eines Teils der Gesellschaft, der dem anderen Teil seine Bedingungen aufzwingt. Diejenigen, die nicht mitkommen, die zu langsam sind, erleben ihre mangelnde Flexibilität und Erschöpfung als Belastung und individuelle Schuld.
Schneller, höher, weiter – langsam, sinkend, stockend – diese 2 Welten stehen sich gegenüber und sind unversöhnlich.
Wettlauf ist kein Stillstand, kein Verweilen, sondern Hetzen nach dem Ultimativen, immer weiter hinauf (ja, wohin denn nur). Das drückt sich z.B. auch in den manisch vorgetragenen Börsenberichten aus und in der Forderung nach mehr Wachstum.
Wie wohltuend wird da ein Flugverbot empfunden, das einem Vulkanausbruch folgt. Endlich! Endlich! Ruhe – „Verweilen im Augenblick, du bist so schön“. Kein Lärm am Himmel, endlich Durchschlafen können.
Der Mensch ist nicht ungehindert leistungsfähig, deshalb erlaubt er sich auch depressiv zu sein. Diese Erlaubnis zum Stillstand und zur Rückwärtsgewandheit, Verharren in der augenblicklichen Situation hat nicht per se Krankhaftes an sich, ist also nicht Depression im medizinischen Sinn.
Leider wird es nicht erlaubt: Wer nicht mithält, läuft Gefahr, gnadenlos aussortiert zu werden. Und kommt nicht oder nur sehr schwer wieder in das gesellschaftliche Wettrennen hinein.
Man merkt zwar, dass permanente Beschleunigung nicht gut tut, auf die Bremse treten will man auch nicht. Entschleunigung tut bei Zeiten gut, ist aber gesellschaftlich noch nicht so verankert, dass sie ein Zukunftsmodell für moderne Gesellschaften ist.
So ist vielleicht der Verlust des Zeitgefühls die Kapitulation vor den schnellen Unwägbarkeiten des Lebens, die nicht alle Menschen aushalten.
In dieser Zeit wieder zu sich selbst finden, zu sich stehen, seiner eigenen Lebensgeschwindigkeit vertrauen, scheint als Lösung offenbar. Dazu bedarf es aber einer gehörigen Portion Selbstvertrauen, das es zu stärken gilt. In solch einem Prozess werden die eigenen Ressourcen gestärkt, der Glaube an sich selbst neu entdeckt. Das eigene Selbstbild wird gefestigt.
Das wiedergefundene Zeitgefühl, dass vielleicht immer noch mit der Umwelt asynchron tickt, wird auf einmal als die richtige Taktung empfunden. Ruhe breitet sich aus, der eigene Platz in der Welt scheint sonniger. Sowohl Depression als auch Manie sind vielleicht nur ein Ausprobieren der gegenüberliegenden Banden, der Fahrbahnbegrenzungen des persönlichen Lebenswegs.